Es scheint als hätte unser Bundesvorsitzender ein Fettnäpfchen gefunden. »Schlömer warnt vor zu viel Transparenz« ist quer über diverse Presseerzeugnisse zu lesen. Ich hätte ja gerne Mäuschen gespielt und gewusst, was Bernd da wirklich gesagt hat, denn so wirklich glaub ich das noch nicht und das was er anführt ist in meinen Augen an sich keine Transparenzkritik. Leider wird der Begriff Transparenz in letzter Zeit immer schwammiger benutzt und verkommt damit zum Totschlagargument. Grund genug ihm mal wieder etwas Leben einzuhauchen und zu konkretisieren.
Bernd wird im wesentlichen mit der Aussage zitiert, dass es auch Raum für vertrauliche Gespräche geben muss. Und da stimme ich auch vollkommen zu. Darum geht es auch gar nicht bei der Transparenz. Es geht nicht darum, dass zwei Abgeordnete, die sich auf der Toilette des Reichstags treffen, erst mal einen Stream besorgen müssen, bevor sie sich unterhalten dürfen. Es geht darum, dass politische Entscheidungsprozesse nachvollziehbar sind. Ich muss wissen können, was diejenigen die politische Macht innehaben dazu treibt eine bestimmte Entscheidung zu treffen.
Was da sicher dazu gehört ist, dass Sachdebatten (besonders in den Entscheidungsgremien) nicht hinter verschlossenen Türen (oder vogonistisch) stattfinden und das Entscheidungsträger auch klar machen welche Interessengruppe mit welchen Argumenten an sie herangetreten sind. Das heißt aber explizit nicht, dass man nicht auch mal vertraulich miteinander sprechen darf.
Ein schönes Realbeispiel bei den Piraten ist die Frage, ob Mailinglisten für jeden lesbar sein müssen. Früher war das für uns Selbstverständlichkeit, aber wir haben auch festgestellt, dass dies eigentlich keinen Mehrwert an Transparenz bringt, da sich dann die vertraulichen Gespräche halt in andere Kanäle verlagern. Deswegen ist diese Frage bei jeder passenden Gelegenheit in der Piratenpartei auch durchaus umstritten. Transparenz kommt halt einfach nicht von selbst, sondern muss aufgebaut und weiterentwickelt werden.
Vor der letzten Bundestagswahl gab es die Debatte um das sog. »Zukunftsministerium«, dass die Piraten damals forderten. Diese Forderung entstand in Diskussion die für jeden zugänglich waren und auch umfassend protokolliert wurden. Und trotzdem wurde es als intransparent kritisiert, weil halt nicht jeder mitbekommen hat, dass das diskutiert wurde. Auch die Entscheidung, welche die Piraten vor kurzen seltsamerweise zu Quotenbefürwortern machte, sah ich damals zum ersten Mal und war ziemlich schockiert, obwohl sie seit langem irgendwo im Liquid-Feedback-Vogonismushaufen aufzufinden war. Hier sieht man, dass nur Daten ins Netz werfen nicht unbedingt zu Transparenz führt.
Als sehr transparent empfand ich die Art und Weise wie der Bingener Bundesvorstand gearbeitet hat. Hier wurden sehr viele Mails über die interne Vorstandsliste ausgetauscht, die kaum ein Mensch je zu Gesicht bekommen hat. Aber alle Entscheidung wurden in den Vorstandssitzungen immer ausführlich – und zum Teil ziemlich hitzig – unter Einbeziehung aller Beteiligten debattiert.
So oder so ist es wichtig, dass wir das Schlagwort Transparenz wieder mit mehr Inhalt füllen. Denn wohin wir kommen, wenn wir die Transparenz schleifen lassen, sehen wir an dem was derzeit in der Berliner Fraktion geschieht. Die Fraktion trifft sich 4 Tage hinter verschlossenen Türen und danach wird plötzlich die Fraktionsspitze umgestellt – und es treten genauso viele Kandidaten an wie es Plätze gibt – und Ausschusssitze neu verteilt. Ich kann diesen Prozess anhand des Fraktionsblogs nicht wirklich nachvollziehen. Stattdessen kommen mir nur Gerüchte zu Ohren, die die Gründe für diese Entscheidung in ein ganz anderes Licht rücken. Wie viel an diesen Gerüchten dran ist und wie objektiv sie wirklich sind, kann ich nicht beurteilen. Aber ich sollte es auch nicht beurteilen müssen und genau das wäre für mich Transparenz.
So oder so bin ich dennoch über die Presseschlagzeilen ziemlich verärgert. »Piratenvorsitzender warnt vor Transparenz« ist einfach ein vollkommen falsches Signal. Deswegen gebe ich euch jetzt eine neue: »Piratenbasisgurke (Anm.: ich) ruft zur Debatte über echte Transparenz auf«. Die Runde ist eröffnet. Discuss.
8 Kommentare
2012-06-27 um 5:41 pm
phranz
micki meister micki
2012-06-27 um 6:12 pm
StreetDogg
Eröffnet wurde diese Debatte schon oft. 😉
2012-06-27 um 7:03 pm
Sympathisant
Warum will ich – als Mitglied der Piratenpartei – Bernd Schlömer als meinen obersten Repräsentanten haben?
War das der einzige ders machen wollte?
Je mehr ich von diesem Mann höre desto schlechter wird mir.
Warum wollen wir jemanden der im Verteidigungsministerium „dient“ als Vorstand?
Warum wollen wir jemanden der mit Axel Springer und Henry Kissinger fraternisiert?
Die Debatte ist doch schon lange ausdebattiert. Es gibt Transparenz, und es gibt Privatsphäre, und die kommen beide wunderbar miteinander aus, weil Transparenz ausschließlich die Nicht-Privatsphäre betrifft.
Lieber Herr Nerz, so siehts aus, das hat der gute Herr Schlömer gesagt (http://www.welt.de/politik/deutschland/article106381049/Henry-Kissinger-und-der-deutsche-Pirat-Schloemer.html):
„Und wieder möchte ich ein Missverständnis aufklären. Ich bin Anhänger einer, so hat es der Jurist Popitz genannt, Präventivkraft des Nichtwissens. Vollkommene Informationstransparenz führt zum Zusammenbruch von Moral-, Rechts- und politischen Systemen. Es gibt eine Sphäre, die braucht das Deckmäntelchen des Schweigens. In diesem Sinne verstehe ich auch Transparenz, dass Raum bleiben muss für vertrauliche Gespräche. Es ist ein Missverständnis, dass die Piraten als Partei der totalen Transparenz dargestellt werden.“
Und diese Aussage finde ich, ehrlich gesagt, zum Kotzen.
2012-06-27 um 7:28 pm
Sympathisant
Die konfusen Teile diese Kommentars bitte ignorieren.
2012-06-27 um 7:51 pm
doc1971
Ach herrje…ich sehe schon die nächsten Schlagzeile der BILD: „Nach Schlömer schmeißt auch Pirat Andreas Popp Transparenz über den Haufen und legitimiert Privat-Gespräche auf dem Piraten-Lokus!“
Korrektur: Schlagzeile für viel zu lang für die BILD…
wie wäre es mit:
„DIE TOILETTE DARF KEIN TRANSPARENZFREIER RAUM SEIN !!1!11“
Spaß beiseite: Einige meinen tatsächlich oder tun zumindest so, also wäre Transparenz bei den Piraten gleichzusetzen mit dem gläsernen Bürger und einer Rund-um-die-Uhr Überwachung von Abgeordneten – anstatt transparenter politischer Entscheidungsprozesse.
Was ich schon für wichtig halte ist bspw., dass bei offiziellen Treffen mit bspw. Firmenvertretern/Lobbyisten grundsätzlich mehr als nur 1-2 Vertreter der Piraten anwesend sein sollte, schon um ein mögliches Gerede um angebliche Beeinflussung von vornherein wirksam zu unterbinden.
Eine quasi Komplett-Überwachung bis hin zum Zigarette rauchen vor der Haustür ist aber natürlich völliger Unsinn und kann auch von niemandem ernsthaft erwartet werden.
Menschen müssen sich auch wie Menschen benehmen können. Wir sind schließlich alle keine Roboter (gut, bionischer Mensch mit eingebautem Internet fände ich persönlich i.O. Hauptsache im Kern immer noch menschlich. ;-))
2012-06-28 um 2:42 am
cmrcx
Hier ist das original Interview:
http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.interview-mit-dem-piraten-chef-vertraulichkeit-muss-in-der-politik-geschuetzt-werden.31debe69-e6de-4166-b4a7-f329d7b03d23.html
2012-06-28 um 7:37 am
LordSnow
„Ein schönes Realbeispiel bei den Piraten ist die Frage, ob Mailinglisten für jeden lesbar sein müssen. Früher war das für uns Selbstverständlichkeit, aber wir haben auch festgestellt, dass dies eigentlich keinen Mehrwert an Transparenz bringt, da sich dann die vertraulichen Gespräche halt in andere Kanäle verlagern.“
Wann haben wir das denn festgestellt? Mit der Argumentation kann man gleich alle möglichen Kommunikationskanäle closed gestalten. Natürlich bringen offene Mailinglisten ein deutlich mehr an Transparenz bzw. auf was du dich eigtl. beziehst Nachvollziehbarkeit. Klar wird es trotzdem noch irgendwelches Gemauschel geben, aber nur weil es keine 100% Lösung gibt, müssen wir nicht gleich die 10% statt die 30% Lösung wählen.
Viele Grüße
René
2012-06-30 um 2:36 am
Josey Wales
Ich denke, das wird sich alles einschleifen m Laufe der Zeit…
Was aber letztlich hier zur Verärgerung führt ist – neben einem möglichen Falsch- oder Fast-Falsch-Zitat – die diffuse Bedeutung des verwendeten Begriffes „Transparenz“. Wir Piraten täten gut daran, diesen Begriff näher zu umreißen. Artikel 1 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 2 Absatz unseres Grundgesetzes und die aufgrund dieser Artikel ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist hierbei der Leitfaden. Ich helfe gerne mit.
CU
Josey Wales