Über alle Parteien hinweg wird an einem Gesetz gearbeitet, das nach dem Kölner Urteil Rechtssicherheit bei der Legalisierung der rituellen Knabenbeschneidung schaffen soll. Die Kanzlerin spricht dazu gleich mal ein Machtwort, damit Deutschland nicht zur »Komiker-Nation« verkommt (was auch immer an dem Thema komisch sein soll). Dabei war es die Justizministerin, die zur Behutsamkeit bei der Gesetzgebung mahnte und sagte:
Man kann nicht einfach pauschal sagen: Jeder religiös motivierte Eingriff ist immer erlaubt […] Niemand möchte die Genitalverstümmelung von Mädchen in unser Gesetz aufnehmen.
Sie zeigt damit eine erstaunliche Umsicht, denn einen Ausnahmetatbestand zu schaffen, der nicht auch die weibliche Beschneidung umfasst, könnte sich als schwieriger herausstellen als man meint. Verfolgt man die Debatte wird an allen Stellen wie selbstverständlich betont, dass die Beschneidung (Zirkumzision) von Jungen etwas anderes ist als die von Mädchen (selbst im Artikel von Robert Bauer, den ich hier besonders empfehlen will). Dies liegt meistens daran, dass die weibliche Beschneidung mit der Praxis der Infibulation (s.u.) gleichgesetzt wird.
Tatsächlich sind unter diesem Begriff aber mehrere unterschiedliche Praktiken zusammengefasst. Die WHO unterscheidet seit 1995 vier Arten der Beschneidung weiblicher Genitalien (wie sie auch in der Wikipedia aufgelistet sind). Diese Einteilung hat sie 2008 in ihrem Bericht »Eliminating female genital mutilation« verfeinert und definiert insgesamt acht Untertypen[1].
Die Typen Ib, II (IIa-IIc) und III (IIIa & IIIb), die eine Amputation der Klitoris und/oder der Schamlippen – sowie beim Typ III (Infibulation) auch das Verengen der Vaginalöffnung – beschreiben, sind zweifelsohne extrem invasive, verstümmelnde Eingriffe, die mit der Zirkumzision nicht vergleichbar sind. Und es ist hoffentlich gesellschaftlicher Konsens, dass es gut ist, dass die bekämpft werden. Daneben gibt es aber noch zwei andere Typen, die von der WHO bekämpft werden.
Da ist zum einen der Typ Ia, die ganze oder teilweise Entfernung der Klitorisvorhaut. Glaubt man Fachleuten[2] ist dieser Eingriff – der wohl bereits bei erwachsenen Frauen aus kosmetischen und/oder medizinischen Gründen durchgeführt wird – anatomisch vergleichbar mit der Zirkumzision. Dies deckt sich zumindest auch mit meinem medizinischen Laienverständnis, dass das Gewebe der Klitoris bzw. der Klitorisvorhaut mit dem der Eichel bzw. der Eichelvorhaut vergleichbar ist. Diese Form der Beschneidung ist wohl nicht allzu weit verbreitet[3], aber sie wird dennoch nicht weniger von der WHO bekämpft.
Dazu kommt der Typ IV, eine Sammelkategorie, die alle verletzenden Eingriffe an weiblichen Genitalien ohne medizinischen Grund zusammenfasst, z.B. Einstechen, Durchstechen, Einschneiden, Abschaben oder Kauterisieren. Auch wenn diese Kategorie – wie der WHO-Bericht selbst einräumt – schwer fassbar ist, beinhaltet sie doch auch zweifelsohne Eingriffe, die deutlich weniger invasiv sind, als eine Zirkumzision.
Neben der anatomischen Vergleichbarkeit, decken sich auch die sozialen Strukturen bei Knaben- und Mädchenbeschneidung. Es gibt Druck der Tradition zu folgen, die Beschneidung ist mit Festen und Geschenken verbunden, entfernte Verwandte werden in die Entscheidung ob beschnitten wird oder nicht eingebunden und beschnittene Erwachsene setzen sich für den Erhalt der Tradition ein[4].
Hier kommen auf den Gesetzgeber tatsächlich Probleme zu. Wenn es also (hoffentlich) gesellschaftlicher Konsens ist, dass auch die wenig invasiven Eingriffe der weiblichen Beschneidung aus rituellen Gründen einen unzulässigen Eingriff in die Rechte des Kindes darstellen, dann muss man sich fragen, wie man vergleichbare Eingriffe bei Jungen gesetzlich ohne plumpe Geschlechterdiskriminierung rechtfertigen kann.
Man könnte zwar argumentieren, dass die Juden und Muslime, die ihre Söhne aus rituellen Gründen beschneiden wollen, eine deutlich größere Gruppe sind, als die Eltern, die ihre Töchter aus rituellen Gründen beschneiden wollen. Aber dieses Argument würde ins Leere laufen. Die Religionsfreiheit steht ja gerade eben auch Minderheiten zu. Eine Sonderregelung lässt sich also nicht allein aus der Größe der Religionsgemeinschaften ableiten.
Aus meiner Sicht gibt es für den Gesetzgeber im Rahmen des Grundgesetzes keine Möglichkeit einen Ausnahmetatbestand für die rituelle Knabenbeschneidung zu schaffen. Ich glaube, wir müssen uns einfach der Tatsache stellen, dass religiöse Rituale nicht im rechtsfreien Raum[5] stattfinden und dass auch Jahrtausende alte Traditionen irgendwann von einer aufgeklärten Gesellschaft in Frage gestellt werden. Ich setze hier auf moderne Glaubensvertreter, die eine symbolische Beschneidung (wie sie z.B. im Judentum anscheinend bei beschnittenen Konvertiten gängig ist) in Betracht ziehen, denn ich wünsche mir weiterhin eine Gesellschaft in der kulturelle Vielfalt herrscht und in der sich alle aufgeklärten Religionsgemeinschaften heimisch fühlen.
[1] WHO, Eliminating female genital mutilation, 2008, S. 23-28
[2] L. M. Solomon, R. C. Noll: Male versus female genital alteration: Differences in legal, medical, and socioethical responses. In: Gender Medicine. Band 4, Heft 2, 2007, S. 89–96. zitiert nach Wikipedia: Klitorisvorhautreduktion
[3] WHO, Eliminating female genital mutilation, 2008, S. 25
[4] WHO, Eliminating female genital mutilation, 2008, S. 5-7
[5] No pun intended
10 Kommentare
2012-07-17 um 4:01 pm
Stephan Eisvogel
Ich verstehe nicht, warum diese religiösen Straftäter gesellschaftlich nicht auf eine Stufe wie die Kinderporno-Täter gestellt werden. Unser Strafrecht und die UN-Kinderrechtskonvention (http://www.giordano-bruno-stiftung.de/meldung/vorhautbeschneidung-ist-keine-bagatelle) ist sonnenklar und unmißverstehlich formuliert. Beides ist ein Mißbrauch von Schutzbefohlenen und wirkt für die Opfer ein Leben lang nach, ob sie das wollen oder nicht.
Ab 18 kann sich jeder selber entscheiden, was er sich abschneiden oder wo er sich überall Metall durchstopfen lassen will. Darunter ab in den Bau mit den Eltern, Sorgerecht verwirkt.
Die zahlreichen Atheisten und Agnostiker in der Piratenpartei müssen endlich Farbe bekennen.
2012-07-17 um 4:59 pm
Gondrino
Ich halte das Rechtsgut „Körperliche Unversehrtheit“ für eindeutig höher zu bewerten als das Rechtsgut „Freiheit der Religionsausübung“. Jedwede körperliche Gewalt gegen Kinder sollte gesellschaftlich inakzeptabel und gesetzlich verboten sein.
2012-07-17 um 7:06 pm
suchenwi
Vor allem ist Religionsfreiheit ja ein Individualrecht für eine Person selbst. Es zur Entscheidungsfindung für ein nicht religionsmündiges Kind (unter 14) auszuweiten ist grob falsch.
2012-07-19 um 10:37 pm
zirkuma
Es gibt nur ein einziges Menschenrecht: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Wenn sich ALLE daran halten würden, gäbe es weder Syrien noch die Juden noch die Muslime und der ganze Blödsinn überall auf dieser idiotischen Welt hätte ein Ende..
Aber leider werde ich nie eine intelligente Zivilisation erleben, sondern nur diesen jüdisch-christlich-muslimischen Blödsinn überall.. (mit einem IQ weit unter 200)
2012-07-20 um 9:21 pm
AnonymerPirat
Es gibt eben NICHT nur ein Menschenrecht, sondern einen ganze Reihe davon die ALLE unveräußerlich sind und die in diesem Fall im Konflikt miteinander stehen. Aufgrund dieser Unveräußerlichkeit ist eine Grundrechtsabwägung KEIN SKATSPIEL, d.h. sie stechen sich nicht gegenseitig aus. Im Fall der Zirkumsion scheint ein Kompromiss aus meheren Gründen nicht möglich und falls Andi Popps Argumentation vor Experten standhält ist ein Verbot wohl unausweichlich.
Aber sich die Sache so einfach zu machen und sich die Menschenrechte rauszupicken, wie es einem in dem Kram passt, ist einfach zu kurz gedacht.
2012-07-20 um 9:33 pm
Skydaddy
Sehr guter Artikel mit neuen Informationen, vielen Dank!
Generell halte ich die weibliche Beschneidung (nicht im obigen Beitrag, aber in de Diskussion, insb. gestern im Bundestag) für ein Ablenkmanöver. Kriterium ist ganz eindeutig die körperliche Unversehrtheit, die bei der Knabenbeschneidung zweifellos verletzt wird. Ob und wie grausam die weibliche Genitalverstümmelung (FGM) ist, ist völlig unerheblich (außer, wie im obigen Beitrag ausgeführt, man will die Knabenbeschneidung erlauben, gleichzeitig aber die FGM weiter komplett verbieten).
Gestern im Bundestag konnte man ja glatt den Eindruck haben, der Maßsstab für Körperverletzung sei die FGM, nicht die körperliche Unversehrtheit.
2012-08-10 um 5:04 pm
Cees van der Duin
Petition gegen Beschneidung
20. Juli 2012
Text der Petition
Der Deutsche Bundestag möge beschließen, Personensorgeberechtigten jede rituelle, medizinisch nicht indizierte Beschneidung eines Jungen (Zirkumzision) oder eines Mädchens (nach der Typisierung der World Health Organisation die FGM vom Typ I, II, III, IV) im Hinblick auf die Verwirklichung der körperlichen Unversehrtheit des Kindes oder Jugendlichen bis zu dessen Volljährigkeit zu untersagen. Um dem Individuum die Option auf ein Leben mit unversehrten Genitalien und mit der Option auf eine selbstgeschriebene Biographie zu ermöglichen, insbesondere im Hinblick auf die Entscheidung, ob eine lebenslange Sexualität mit oder ohne Präputium (Junge) oder Klitorisvorhaut (Mädchen) verwirklicht wird, möge der Bundestag beschließen, in das Bürgerliche Gesetzbuch Buch 4 Familienrecht Abschnitt 2 Verwandtschaft Titel 5 Elterliche Fürsorge § 1631 Inhalt und Grenzen der Personensorge einzufügen:
§ 1631d
Verbot der rituellen Genitalmutilation
Die Eltern können nicht in eine rituelle, medizinisch nicht indizierte Beschneidung ihres Sohnes (Zirkumzision) oder ihrer Tochter (nach der Typisierung der World Health Organisation die FGM vom Typ I, II, III, IV) einwilligen. Auch das Kind selbst kann nicht in die Beschneidung einwilligen. § 1909 findet keine Anwendung.
http://eifelginster.wordpress.com/2012/07/21/297/
2012-08-23 um 1:10 pm
Winfried Kraus
„Die Zeit ist überfällig, dass auch dieses grausame archaische Mannbarkeitsritual an unmündigen Kindern verboten und geächtet wird.“
2012-09-27 um 9:31 am
Beschneidung: Der Gesetzgeber drückt sich vor seinen Pflichten « Andis Blog
[…] andere Problem mit dem Gesetzentwurf habe ich bereits vorhergesagt. Der Gesetzgeber erlaubt Eltern explizit nur ihre männlichen Kinder zu beschneiden und klammert […]
2012-12-16 um 9:33 am
Quo vadis Beschneidungsdebatte? « Andis Blog
[…] legalisiert ist, die wir bei Mädchen weltweit bekämpfen – und bevor jemand schreit: Ja, die sind vergleichbar. Die Prüfung dieses Gesetzes durch das BVerfG ist unwahrscheinlich. Eine Verfassungsbeschwerde […]