tl;dr
Ich glaube wir sind noch nicht soweit eine Mitgliederversammlung durch ein Online-Tool zu ersetzen, weil wir dadurch den Diskurs als wichtige demokratische Komponente verlieren würden.

Wie sieht die Demokratie im digitalen Zeitalter aus? Das ist eine Frage, welche die Piratenpartei zu beantworten versucht wie kaum eine andere Gruppierung in Deutschland. Wo sonst wird so intensiv über Tools und Wahlverfahren debattiert? Bei den Piraten gibt es bei einer Aufstellungsversammlung Unbehagen über den Wahlausgang und es findet sich sofort jemand der die Wahl evaluiert, bei den Grünen wird eine Spitzenkandidatin mit nur relativer Mehrheit gewählt und keinen juckts. Für uns Piraten sind nicht zuletzt die Möglichkeiten von Internet-Tools besonders interessant. So ist wohl einer der meist diskutieren Anträge für den kommenden Bundesparteitag in Bochum die Satzungsänderung zur Einführung der ständigen Mitgliederversammlung.

So sehr ich die grundsätzliche Intention verstehe und begrüße, habe ich mit der konkreten Umsetzung dieses Antrags ein Problem. Der Antrag sieht vor, dass die bundesweite LQFB-Instanz für die ständige Mitgliederversammlung benutzt wird. Damit bin ich ehrlich gesagt nicht ganz glücklich. Dabei geht es mir gar nicht darum, dass LQFB bisher nicht ordentlich evaluiert wurde, obwohl es umfangreiche sachliche Kritik gibt, sondern um die Frage ob LQFB wirklich mit einer Mitgliederversammlung vergleichbar ist. Denn auch wenn es uns manchmal mehr und manchmal weniger gefällt, eine Mitgliederversammlung hat die besondere Eigenschaft: Wir nehmen uns die Zeit über Anträge zu diskutieren. Der Diskurs und der daraus resultierende Prozess der Meinungsbildung ist meiner Ansicht nach ein essentieller Bestandteil der Demokratie.

Liquid Feedback bildet diesen Aspekt derzeit aber kaum bis gar nicht ab. Schon per Design sollte Diskussion auf dem Portal selbst vermieden werden. Statt Kommentaren sind nur Anregungen möglich. Die Idee dahinter war, dass man nur konstruktive Vorschläge machen sollte und Dinge nicht »zerreden«. Diese seltsame Form des Harmoniebedürfnisses schwingt bis heute in der Piratenpartei mit. Jedem der sich parteiintern gegen eine Sache ausspricht, wird irgendwann Destruktivismus vorgeworfen, als ob gegen etwas zu sein eine bösartige Eigenschaft wäre. Dies führt aber dazu, dass der Meinungsbildungsprozess erstickt.

Ich möchte als Beispiel die Initiative 3865 anführen. Diese hat die gut gemeinte Intention Sponsoring-Eskapaden wie bei anderen Parteien auf den Bundesparteitagen der Piraten zu vermeiden, schüttet allerdings das Kind mit dem Bade aus, indem er auch uns freundlich gesinnte NGOs wie diverse Bürgerrechtsvereine mit aussperrt. Ich traue mir zu auf einer Mitgliederversammlung die richtigen Argumente anbringen zu können um die notwendige Mehrheit ins Wanken zu bringen. Aber wie kann ich das in LQFB? Ich habe versucht eine Anregung zu schreiben, der Initiator hat sie mit einem kurzen Kommentar abgeschmettert. Wie hätte ich weiter argumentieren können? Gegeninitiativen, gerade wenn sie in die Richtung »nichts tun« gehen, werden bereits meist anhand der Überschriften ignoriert. Die Diskussions-URL klickt meiner Erfahrung nach wirklich kaum jemand an. Und die Anregungen für eine Diskussion zu missbrauchen würde wohl eher nerven als zum Ziel führen. Ich wusste nicht weiter, die Initiative wurde mit großer Mehrheit angenommen.

Die bisherige Ausgestaltung von LQFB stellt meines Erachtens die Abstimmung viel zu sehr in den Vordergrund und vernachlässigt den Diskurs. Das ist nicht so schlimm, solange man LQFB als Teil der Diskussion betrachtet, aber nicht als Plattform für die Entscheidung. Aber wenn sich das jetzt mit der ständigen Mitgliederversammlung ändern soll, fehlen hier Möglichkeiten für den Diskurs. Gerade wenn man selbst möglichst viel am System teilnehmen will (oder sich vielleicht dazu verpflichtet fühlt, weil viele Piraten auf einen delegieren), muss man sich in recht kurzer Zeit eine Meinung bilden. Die Motivation »aus dem Bauch heraus« zu entscheiden ist verdammt groß. Dies führt aber nicht unbedingt zu besseren Ergebnissen. Wir haben schon mehrfach erlebt, dass ein Antrag, der in LQFB eine deutliche Mehrheit hatte, nach einer Debatte auf dem Parteitag abgeschmettert wurde. Daran kann man sehen, dass LQFB eben nicht in der Lage ist eine Mitgliederversammlung zu ersetzen, ganz im Gegenteil. Ich erwarte, dass die Ergebnisse (unter anderem) aufgrund der fehlenden Debatte ganz anders aussehen werden.

Ich glaube sogar LQFB würde den politischen Diskurs nicht nur nicht unterstützen, sondern sich sogar explizit negativ auswirken. Eine Abstimmung wird sehr häufig als Totschlagargument gebracht. Wenn ich erst spät von einer Abstimmung erfahre, mit deren Ausgang ich nicht zufrieden bin, dann bekomme ich sicher ein paar mal »Die Diskussion ist jetzt unnötig. Das ist beschlossen.« zu hören, auch wenn ich neue Argumente habe. Der Effekt ist ähnlich wie wenn man in Bayern nach dem Volksentscheid über den Nichtraucherschutz diskutieren will.

Ich halte es daher für essentiell eine Form von gut organisierter Debatte in das Abstimmtool zu integrieren, damit man damit wirklich etwas etablieren kann, was mit einer ständigen Mitgliederversammlung vergleichbar wäre. Adhocracy und Wikiargument haben zwei sehr gute Ansätze, auf denen man aufbauen kann. Ich werde in den kommenden Tagen und Wochen versuchen hier entsprechende Verbesserungsvorschläge zu formulieren.

Nochmal kurz zusammengefasst glaube ich also, dass wir noch nicht soweit sind tatsächlich eine »ständige Mitgliederversammlung« zu etablieren, weil die Werkzeuge, die wir haben, völlig anders und meiner Meinung nach schlechter sind als eine Mitgliederversammlung. Wir sollten uns mehr darauf konzentrieren unsere Tools weiter zu entwickeln und damit zu experimentieren. So können wir später eine ausgereifte Form der ständigen Mitgliederversammlung starten, anstatt nun erneut einen Schnellschuss abzufeuern.