Der Bundestag hat den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Relegalisierung der Knabenbeschneidung letzte Woche zugestimmt. Groß wurde verkündet, dass das Gesetz alle betroffenen Grundrechte in Einklang bringt und damit die Debatte jetzt wieder befriedet wird. Dabei war das Gesetz genau eins: eine reaktionäre Handlung, die den Status quo ante wiederherstellt, quasi der Wiener Kongress der Beschneidungsdebatte. Die Befürworter der Beschneidung haben alles bekommen, was sie wollen, die Gegner gar nichts, nicht mal eine Kompromisslösung à la Schwangerschaftsabbruch. Und das soll nun zur Befriedung des Konflikts beitragen?
Und so sind wir nun in der seltsamen Situation gefangen, dass in unserem Staat eine Praxis bei Jungen per Gesetz vollständig legalisiert ist, die wir bei Mädchen weltweit bekämpfen – und bevor jemand schreit: Ja, die sind vergleichbar. Die Prüfung dieses Gesetzes durch das BVerfG ist unwahrscheinlich. Eine Verfassungsbeschwerde kann nur einlegen, wer vom Gesetz betroffen ist und welches beschnittene Kind soll ohne die Eltern – die den Eingriff befürwortet haben – schon vor Gericht ziehen? Da liegen wohl mindestens 18 Jahre dazwischen, wen sich überhaupt jemand findet, der seine eigenen Eltern verklagen will. Eine Normenkontrollklage kann auf Bundesebene nur von der Bundesregierung, einer Landesregierung oder einem Viertel der Mitglieder des Bundestages eingereicht werden, da scheint sich auch niemand für zu finden. Am wahrscheinlichsten ist noch, dass die Befürworter einer Mädchenbeschneidung die gerichtliche Klärung über den Gleichbehandlungsgrundsatz suchen. Eine Vorstellung bei der mir ehrlich gesagt auch nicht gerade wohl wird.
Der Gesetzgeber hat sich im Endeffekt einer ernsthaften Debatte vollkommen verwehrt. Noch bevor überhaupt Argumente ausgetauscht waren, hatte der Bundestag mit großer Mehrheit die Bundesregierung aufgefordert einen Gesetzentwurf zur Relegalisierung vorzulegen. Man hat es nicht mal für nötig befunden den wissenschaftlichen Dienst damit zu beauftragen, die Masse an Publikationen mit neuen Erkenntnissen zur Beschneidung zu sichten, welche die ganze Phalanx an vermeintlichen positiven Effekten der Beschneidung zu Fall bringen können. Der Bundestag wollte diese Debatte nie wirklich führen, sondern sie nur ganz schnell hinter sich bringen. Er hat sich um die Verantwortung gedrückt. Nicht mal die Opposition – wenn man von den 66 mutigen Abweichlern mal absieht – hat es geschafft hier ihrer Aufgabe gerecht zu werden.
Und so halten sich heute noch selbst die zweifellos widerlegten Theorien, dass eine Beschneidung gegen AIDS oder Gebärmutterhalskrebs bei Sexualpartnerinnen vorbeugen würde. Und auch sonst ist die öffentliche Debatte auf dem Wissensstand der 50er Jahre stehen geblieben. Die Bundesjustizministerin – die ich vor kurzem noch vorschnell für ihre Weitsicht in der Debatte lobte – hat recht, wenn sie sagt, dass es im Mai noch vollkommen normal war, dass Eltern ihren männlichen Kindern die Vorhaut entfernen lassen dürfen. Aber das zeigt nur, dass die Debatte längst überfällig ist.
Und so liegt es jetzt an uns, die Justizministerin zu enttäuschen und die Debatte, der sich der Bundestag verweigert hat, in der Zivilgesellschaft weiter zu führen. Denn »das war schon immer so« und »das ist doch überall so«, sind eben keine gültigen Argumente. Es ist offensichtlich in der Gesellschaft immer noch zu wenig Problembewusstsein. Als die WHO bei der weiblichen Beschneidung vor einem ähnlichen Problem stand, hat sie darüber diskutiert ob sie den Begriff Beschneidung oder den Begriff Genitalverstümmelung benutzt[1]. Man entschloss sich schließlich den Begriff Genitalverstümmelung zu nutzen um der Schwere des Eingriffs Rechnung zu tragen. Vielleicht wird es Zeit bei der medizinisch nicht notwendigen Zirkumzision endlich auch von dem zu sprechen was es ist: Genitalverstümmelung. Es würde die Gräben sicher noch vertiefen. Die Frage ist, was nach diesem grausamen Gesetz sonst noch für Optionen bleiben, als den Druck zu erhöhen? Ich bin für alle guten Ideen offen.
So oder so, die Debatte um die – ich sag es jetzt – Genitalverstümmelung bei männlichen Kindern darf nicht wieder zum Tabu werden. Nach dem Gesetz darf es nicht heißen »dann halt nicht«, sondern »jetzt erst recht«.
[1] WHO, Eliminating female genital mutilation, 2008, Anhang 1
5 Kommentare
2012-12-16 um 11:10 am
lokielie
Auffallend, dass es bei dieser Debatte mehr um den religiösen Teil und sehr wenig um die wissenschaftliche (medizinische) Erkenntnis zur Sache ging/ geht. Und, da fangen viele an zu kuschen. Ist eine andere Position immer gleich ein Ablehnen dieser Religion? Ich sehe diese Angst davor bei der Politik sehr wohl. Schade! Denn hier werden kleine Menschen ziemlich arg beschnitten, nicht nur das Stückchen Haut, sondern auch sehr mental!
2012-12-16 um 11:27 am
Achim Ossenberg
Recht hast du, die Debatte darf nicht verstummen. Dazu aber zunächst mein Statement zum verabschiedeten Gesetz.
Das Grundgesetz, hier die Grundrechte, steht über allen anderen Gesetzen. Punkt.
Ich greife hier nur Art. 2 Abs. 2 heraus, der das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit garantiert. Allerdings mit der Möglichkeit von Ausnahmen per Gesetz – und nur per Gesetz.
Es ist meiner Meinung nach grotesk darüber nachzudenken, es überhaupt in Erwägung zu ziehen, Verstümmelungen und irreversible Körperverletzungen – bei nur ausreichend begründetem Stuss, faktisch straffrei zu stellen. Also ein Recht auf Körperverletzung zu erlassen!? Absurd!
Jede Genitalverstümmelung, begründet oder nicht, hat auf jeden Fall zur Folge, dass sexuelle Empfindungen nicht so erlebt werden können, wie sie empfunden werden könnten.
Nichts, absolut gar nichts kann es rechtfertigen, dass die vom Grundgesetz garantierten Rechte, hier das Recht auf körperliche Unversehrtheit des Menschen, aufgehoben werden. Und schon erst recht nicht durch irgendwelche religiösen Traditionen, die sich über das Grundgesetz erheben.
„Der Staat hat sich aus Glaubens- und Kirchenfragen herauszuhalten“. Schon, aber umgekehrt genauso. Kein Glaube, keine Kirche, keine Sekte oder sonst was hat das Recht in unsere staatliche Ordnung einzugreifen. Und schon gar nicht in so wesentliche Grundrechte wie die in Art. 2 Abs. 2 genannten.
Ich bin für ein grundsätzliches Beschneidungsverbot bis zu einer selbstbestimmten Andersentscheidung der Betroffenen ab dem frühestens 14. Lebensjahr. Einzige Ausnahme hiervon darf die verifizierte medizinische Notwendigkeit sein (Beispiel: Phimose).
Wie aber kommt es denn nun eigentlich zu solchen Gesetzesverabschiedungen?
Eine mögliche Theorie:
Es geht um Geld. Um viel Geld. Und da Geld bekanntlich den Charakter verdirbt, die Menschenrechte übersteigt und im Zweifelsfall auch das Gewissen ausschaltet, kommt es eben zu solchen Verabschiedungen. Wäre es nämlich dabei geblieben, dass die Beschneidung den Straftatbestand der Körperverletzung darstellt, dann hätten die Betroffenen die Möglichkeit gehabt, Schadenersatz und Schmerzensgeldforderungen zu stellen.
Verabschiedung übrigens auch in anderer Hinsicht, nämlich die innere Verabschiedung der MdB von Verantwortung. Die faktische Verabschiedung, vom Recht sich Vertreter des ganzen Volkes nennen zu dürfen.
Die Privatisierung der Demokratie schreitet voran. Armes Deutschland.
2013-02-06 um 3:27 pm
Unbekannter '#1
Wir haben seit einiger Zeit (gefühlt seit den 1990er Jahren) eine politische Unkultur des aufstellens unsinniger Behauptungen. In diesem Zusammenhang könnte das so aussehen, daß gesagt wird: „Die Bescheidung aus religiösen Gründen ist eine religiöse Tradition und steht deshalb unter dem Schutz der Religionsfreiheit. Deshalb ist es auch keine Körperverletzung.“
So ählich ist ja tatsächlich argumentiert worden. Es wird einfach etwas behauptet als „ES IST so“ Und es wird eine Begründung verwendet, die unsinnig ist: Religiös, also keine Körperverletzung. Es ist anscheinend noch nicht in vielen Köpfen angekommen, daß ein ‚Ding‘ eben auch zwei oder mehr Seiten haben, die theoretisch gar nichts mit einander zu tun haben müssen (netter Vergleich: Teilchen- und Wellenmodell des Lichts).
(Angenommen) Die Beschneidung IST ein teil der Religionsausübung (der Eltern), so ist sie aber doch einfach gleichzeitig (leider) Körperverletzung! Praktisch muss man jetzt irgendwie damit umgehen, daß es diese beiden Aspekte nebeneinander gibt.
Aber diese unbequeme Gleichzeitigkeit zu benennen und zu bearbeiten, war natürlich zu viel für unsere deutsche Politik…
2012-12-16 um 5:35 pm
suchenwi
Ich würde nicht die Begriffe Beschneidung oder Verstümmelung verwenden, sondern Amputation. Das ist es sachlich gesehen doch – operative Entfernung eines Körperteils.
2012-12-16 um 7:22 pm
TurBor
Ich habe zum vergangenen Parteitag ein Positionspapier eingereicht, das den Schwerpunkt auf medizinische statt religiöse Aspekte legt: http://wiki.piratenpartei.de/Antrag:Bundesparteitag_2012.2/Antragsportal/P043 – kam erwartungsgemäß nicht dran%)